Chǐ wáng shé cún.
Der daoistische Philosoph Laotse (老子 Lǎozǐ 6. Jahrhundert v. u. Z.) besuchte einmal seinen alten Lehrer, der schwach und krank im Bett lag. Als Laotse eintrat, richtete er sich auf und bat ihn, in seinen Mund zu schauen, ob noch Zähne da wären, denn er wusste, dass man erst dann alt ist, wenn man nicht mehr zusammen mit seinen Zähnen schläft.
Laotse schaute in den Mund und sagte: „Meister, eure Zähne sind alle ausgefallen.“
„Was ist mit der Zunge? Ist die noch da?“
„Jawohl, Meister, die Zunge ist noch da.“
„Kannst du mir erklären, warum das so ist?”
„Ich glaube, eure Zähne sind ausgefallen, weil sie hart sind. Die Zunge aber ist geblieben, weil sie weich ist.“
„Genau!“ erwiderte der Meister. „Das ist der Lauf der Welt.“
Laotse (老子 Lǎozǐ 6. Jahrhundert v. u. Z.) auf dem Weg in die Emigration
Der gleiche Gedankengang findet sich in Bertolt Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“:
4
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“ – „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt.
5
Doch der Mann in einer heitren Regung
fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.
Doch den Zollverwalter an der Grenze interessiert es, „wer wen besiegt“. Und so hatte Laotse als Zollabgabe sein Büchlein Taoteking (道德经 Dàodéjīng) niederzuschreiben.
Verwendung:
Wer einen kleineren Gegner beseitigt, vergisst leicht, dass dahinter womöglich ein viel mächtigerer Gegner lauern kann.
Vokabeln:
齿 chǐ Zahn, Zähne (Langzeichen: 齒) | 亡 wáng verlieren | 舌 shé Zunge | 存 cún existieren |