Tiě zhù mó chéng zhēn.
Während der chinesischen Tang-Dynastie (唐朝 Tángcháo) lebte der berühmte Dichter Lǐ Baí (李白, 701 – 762) der als Kind gerne spielte und sich nicht auf die Bücher konzentrierte. Als er wieder einmal ausgebüchst war, erblickte er eine alte Frau, die eine Eisenstange auf einem großen Stein schliff. Neugierig fragte er: „Oma, was macht Ihr denn da?”
Ohne von ihrer Arbeit abzulassen, erwiderte die alte Frau: „Ich will aus dieser Eisenstange eine Nadel herausschleifen, um damit zu nähen.“
Mit dieser Antwort unzufrieden, fragte Lǐ Baí weiter: „Was? Diese Stange wollt Ihr zu einer Nadel schleifen?“
„Wenn ich heute schleife und morgen wieder, wird sie ja immer dünner. Dann schließlich erreiche ich eines Tages doch mein Ziel.“
Lǐ Baí verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl und beschloss von da an, eifrig zu lernen. Letztlich wurde er zu einem großen Dichter.
Ein berühmtes Portrait von Lǐ Baí (李白, 701 – 762), bei uns auch bekannt als Li Tai-po
Es fehlt allerdings noch der Treppenwitz zu dieser Anekdote. Zwar wurde Lǐ Baí zu einem der berühmtesten Dichter, die China jemals besaß, aber er wurde es sicher nicht, weil er ein strebsamer Mensch war. Im Gegenteil – er war ein versoffenes Genie, bestand keine Beamtenprüfung und schrieb viele seiner berühmten Gedichte im Vollrausch.
Verwendung:
Einen Eisenstab zur Nadel schleifen ist seitdem ein Sprichwort für rastlose Arbeit und will uns sagen, dass Ausdauer alles überwinden kann.
Vokabeln:
铁 tiě Eisen (Langzeichen: 鐵) | 杵 chǔ manchmal: bang (棒 = Stock, Knüppel) | |
磨 mó mahlen, schleifen | 成 chéng werden | 针 zhēn Nadel (Langzeichen: 針) |
Zur Illustration wollen wir hier eines seiner berühmtesten Gedichte zitieren:
Gedanken in stiller Nacht
靜夜思
jìng yè sī
still Nacht Gedanke
床前明月光
chuáng qián míng yuè guāng
Bett vor hell Mond Strahl
Vor meinem Bett ein heller Mondstrahl
疑是地上霜。
yǐ shì dì shàng shuāng
zweifeln ist Erde auf Frost
Ich frage mich, ob es nicht Frost auf der Erde ist.
舉頭望明月,
jǔ tóu wàng míng yuè
heben Kopf blicken hell Mond
Ich hebe meinen Kopf und blicke zum hellen Mond.
低頭思故鄉。
dī tóu sī gù xiāng
senken Kopf denken alt Heimat
Ich senke meinen Kopf und denke an die alte Heimat.
Zwei Übersetzungen:
Übersetzung von Alfred Forke:
Vor meinem Bette ich Mondschein seh’,
als wär’ der Boden bedeckt mit Schnee.
Ich schau zum Mond auf, der droben blickt,
der Heimat denkend das Haupt mir sinkt.
Übersetzung von Vincenz Hundhausen:
Vor meinem Bette spielt ein weißes Licht.
Ist es der Morgen schon? Ich weiß es nicht.
Und wie ich zweifelnd hebe mein Gesicht,
seh’ ich den Mond, der durch die Wolken bricht.
Da muß ich mich zurück aufs Lager senken
und heimatlos an meine Heimat denken.