(Mathias Obst)
Im August 2010 begann mein Auslandsjahr in Japan. Dort würde ich ein Jahr an der Akita International University verbringen, welche sich in der gleichnamigen Präfektur im Norden Japans befindet. Mir war bereits vorher bewusst, dass die Präfektur selbst nur sehr klein und die Universität recht abgeschottet ist. Da es mir jedoch sehr wichtig war, viel vom Land zu sehen und mit so vielen Leuten wie möglich in Kontakt zu kommen, entschied ich mich dafür, die langen Ferienzeiten, die mir zur Verfügung standen, zu nutzen und durch das gesamte Land zu reisen.
Auch während der Semesterferien im März 2011 hatte ich bereits eine Reise in die Kansai Region geplant. Dort hatte ich vor, eine Woche zusammen mit meiner Freundin in einem Hotel in Kyoto zu verbringen, um von dort aus die gesamte Gegend zu erkunden und Freunde zu besuchen. Geplant war, dass wir am März mit einem Bus in die knapp 250 km entfernte Großstadt Sendai fahren und von dort aus noch am gleichen Abend mit einem Nachtbus Richtung Kansai weiterreisen würden. Ein Tag vor der Fahrt gab es bereits ein größeres Erdbeben in der Tohoku Region. Auch vorher hatte ich schon andere Erdbeben in Japan miterlebt, jedoch hatte ich dabei nie Angst oder das Gefühl, dass von dem Erdbeben eine Bedrohung ausgeht. Vielmehr empfand ich es als lustig, wenn ich plötzlich leichte Probleme hatte, meine Balance zu halten oder eben wie an jenem Tag durch das Rütteln meines Bettes geweckt wurde. Zwar habe ich die Bilder des großen Kobe-Bebens von 1995 gesehen und die verheerenden Ausmaße, die dieses mit sich zog, aber wirklich präsent war der Gedanke, dass eine solche Tragödie während meines Auslandsjahres erneut stattfindet, nicht. Daher machte ich mich mit meiner Freundin auch am 11. März ohne weitere Gedanken auf den Weg nach Sendai.
Da wir bereits recht früh in der Stadt ankamen, wollten wir die noch
verbleibende Zeit nicht warten, sondern nutzen, um uns die etwa 25 km entfernte
Küstenstadt Matsushima anzuschauen. Die Stadt ist bekannt für
ihre wunderschöne Bucht, in der es viele kleine, mit Kiefern bedeckte Inseln
gibt. Um diese allerdings erreichen zu können, muss man eine der Fähren vor Ort
benutzen. Nachdem wir den Bahnhof von Matsushima erreicht hatten, gingen wir
daher direkt zum kleinen Hafen der Stadt. Dort angekommen, sahen wir auch schon
die wartenden Fähren am Steg, allerdings benötigten wir zuerst noch die
Fahrscheine. Meine Freundin ging dafür in das Verkaufshäuschen, während ich
mich schützend neben einen der Angestellten der Fähre unter das Dach des
Häuschen stellte, da es plötzlich anfing, stark zu schneien.
Noch während ich wartete, setzte plötzlich das Erdbeben ein. Zuerst bemerkte
ich es kaum und war mir nicht sicher, ob es sich nicht doch nur um eine Einbildung
handelte. Dann hörte ich jedoch den Angestellten neben mir laut: „Es ist ein
Erdbeben. sagen. In diesem Moment setzte das Beben mit seiner vollen Kraft ein.
Das Dach der kleinen Verkaufsstelle über mir begann zu rütteln und ich konnte
mich nur noch schwer auf den Beinen halten. Die Angestellten der Fähre
reagierten schnell und lotsten die Leute aus dem Verkaufshaus auf die offene
freie Fläche direkt vor dem Steg des Hafens. Zusammen mit einigen anderen
Japanern wurden wir von den Angestellten angewiesen, in die Hocke zu gehen und
Ruhe zu bewahren. Währenddessen begannen die umstehenden Häuser ins Wanken zu
geraten und lautes Knarren war von den Gebäuden zu hören. Straßenschilder
fingen an, sich unter einem Quietschen zu verbiegen, und Dachziegel zerschellten
auf den Straßen. Plötzlich stieß eine Gruppe von Schulmädchen zu uns, viele von
ihnen völlig aufgeregt. Als um uns herum an Stellen die Erde aufbrach und
Wasser aus den entstandenen Spalten heraus quoll, fingen viele von ihnen an,
vor Angst zu weinen. Da ich mit der Situation nicht umzugehen wusste, versuchte
ich mich nach den dabeistehenden Japanern zu richten. Ich schaute in ihre
Gesichter, um Ruhe zu bewahren. Vielen allerdings war die Anspannung deutlich
anzusehen. Erst in diesem Moment wurde mir wirklich bewusst, dass das Beben
nicht einfach nur ein gewöhnliches Erdbeben sein konnte. Laut offiziellen
Angaben dauerte das Beben in etwa fünf Minuten, mir kam es allerdings wie eine
halbe Ewigkeit vor.
Nachdem das Beben ein Ende gefunden hatte, waren es erneut die Angestellten der
Fähre, die uns sagten, was zu tun war. Sie warnten uns vor einem womöglich
nahenden Tsunami und wir wurden aufgefordert, den Hafen sofort zu verlassen und
in den etwa 400 Meter entfernten Wald zu flüchten. Noch mit leicht wackeligen
Beinen begab ich mich mit meiner Freundin in Richtung Wald. Wir folgten den
Anderen, bis wir auf einem kleinen Hügel innerhalb des Waldes ankamen. Auch
andere Japaner aus den nahe gelegenen Häusern hatten sich dort bereits
versammelt. Viele von ihnen starrten mit gebannten Augen auf ihre Handys,
während sie über das integrierte Internet oder Radio versuchten, aktuelle
Informationen über die momentane Lage zu erhalten. Auch ich nutzte die
Möglichkeit, um mit meinem Handy per E-Mail Freunden Bescheid zu geben, dass
ich mich gerade in Matsushima befand, mir aber nichts passiert sei. Auch meinen
Eltern schickte ich noch eine Nachricht, bevor kurz darauf das komplette
Funknetz zusammenbrach. Währenddessen strömten mehr und mehr Menschen zu uns,
und auf dem Hügel wurde es immer voller.
Mönche aus einem nahe gelegenen Tempel kamen hinzu und verteilten an die
wartenden Menschen Taschenwärmer, da der Schneefall noch stärker zugenommen
hatte. Zugleich wurde uns von einem der Zuständigen gesagt, dass man laut Radio
einen Tsunami erwarten würde, der bis zu fünf Meter hoch sein könne. Wir
sollten daher alle weiterhin auf dem Hügel warten, bis vorläufige Entwarnung
gegeben werden könne. Diese Informationen waren für meine Freundin und mich nur
verständlich, da zwei Japaner auf uns zukamen und uns alle neuen Informationen
für uns leichter verständlich weitergaben. Ich war sehr dankbar dafür,
gleichzeitig aber auch überrascht über diese Offenheit.
Auch mit anderen Japanern, die vor Ort waren, kamen wir ins Gespräch und fanden
schnell neue Freunde. Durch die Gespräche wurde uns klar, dass auch die Japaner
zum größten Teil zum ersten Mal solch eine Situation miterlebten. Viele wussten
selbst nicht, wie sie am Besten auf die Situation reagieren sollten, blieben
aber durchgehend ruhig, da sie den Worten der Verantwortlichen vertrauten.
Diese erschienen dann auch erneut und berichteten, dass der Tsunami wohl in
wenigen Minuten eintreffen würde, wir aber Ruhe bewahren sollten. Der Wald
versperrte die Sicht auf die Stadt, daher blieb uns nichts anderes übrig, als
abzuwarten. Wenige Minuten später wurde ich allerdings durch einen lauten Knall
aufgeschreckt. Zuerst konnte ich die Ursache für den Knall nicht ausmachen,
konnte aber ein leichtes Rauschen in der Ferne vernehmen. Ich nehme also an,
dass zu diesem Zeitpunkt die Welle auf die Hafenwand oder die am Hafen
liegenden Häuser prallte. Nicht sicher, ob der Tsunami uns erreichen würde,
versuchte ich nach weiteren Geräuschen zu horchen und starrte dabei in den
Wald. Erlösung kam erst, als einer der Verantwortlichen Entwarnung gab. Das
Wasser käme nur bis zum Eingang des Waldes, habe aber den Hafen und alle
umliegenden Gebäude mit voller Wucht getroffen.
Wir wurden aufgefordert, weiterhin auf dem Hügel zu warten, da aufgrund der andauernden
Nachbeben noch keine Sicherheit bestand. Das Warten wurde allerdings zunehmend
zur Qual, da es ungewöhnlich kalt war. Um etwas Schutz und Wärme zu
ermöglichen, wurden kleine Zelte und Feuerstellen aufgebaut. Da jedoch zu viele
Menschen versammelt waren, ließ man insbesondere die älteren Menschen in die
Zelte und an das Feuer.
Die Zeit verstrich langsam und allmählich wurde es dunkel. Da der Schneesturm
nicht nachließ, wurden wir nach mehreren Stunden des Wartens allesamt in den
Tempel der Mönche gebracht, die uns vorher bereits die Taschenwärmer gebracht
hatten. Unterschlupf fanden wir in einem der vielen großen, mit Strohmatten
(Tatami) ausgelegten Räumen des Tempels. Zusammen mit etwa fünfzig anderen
Japanern und unseren neu gewonnen Freunden nahmen wir in dem Raum Platz. Doch
aufgrund des Erdbebens gab es keinen Strom oder fließend Wasser. Daher wurden
die Räume nur durch das schwache Licht von provisorisch aufgestellten Kerzen
erhellt.
Die Mönche verteilten rasch Decken an alle Menschen, da der Tempel selbst nur
wenig Schutz vor der Kälte bot. Auch Kleinigkeiten zu essen sowie heißer Tee
wurden verteilt. Ich versuchte mich derweil durch Gespräche mit den Anderen von
den stetigen Nachbeben, die die Tempelanlage alle paar Minuten erschütterten,
abzulenken. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das schrille Geräusch des
in japanischen Handys integrierten Erdbeben-Frühwarnsystems, das in jener Nacht
immer wieder zu hören war.
Die Menschen hörten in solchen Momenten auf zu reden, manche hielten die Kerzen
fest und warteten dann angespannt auf das gleich folgende Beben. Die alten
Holzsäulen des Tempels gaben dabei immer wieder ein lautes Knacksen von sich,
als würden sie jeden Moment umstürzen. Besonders diese Momente des stillen
Wartens zehrten an mir.
Mitten in der Nacht erschien immer wieder der örtliche Polizeichef und gab
Neuigkeiten an uns weiter. Er erzählte davon, dass das Wasser noch immer nicht
abgeflossen sei und dass kein Kontakt zu einer Schule in der Nähe hergestellt
werden könne, die Kinder aber bisher nicht heimgekehrt seien. Er fragte daher
nach Freiwilligen, die mit ihm zu jener Schule gehen würden, und tatsächlich
gab es davon nicht wenige. Obwohl viele der Menschen durch die Kälte bereits
stark erschöpft waren, zeigten sie Courage und Bereitschaft, anderen zu helfen.
Es herrschte ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt, welches mich stark
beeindruckte. In jener Nacht versuchte ich immer wieder einzuschlafen, was mir
aber aufgrund der Nachbeben und insbesondere der Kälte nicht gelang. Erst am
nächsten Morgen, als der Schneesturm abließ und die Sonne hervorkam, war es den
Anderen und mir möglich, etwas zu schlafen.
Nachdem wir aufgestanden waren, hatten wir zum ersten Mal die Möglichkeit, das
Tempelgelände zu verlassen und das Ausmaß des Tsunamis zu betrachten. Das
Wasser war bereits abgeflossen, doch hatte es überall eine zentimeterdicke
Schicht Schlamm hinterlassen. So konnte man erkennen, dass das Wasser nur
wenige Meter vor der Tempelanlage Halt gemacht hatte. Das Hafengebiet selbst
sah aus wie eine Szene aus einem Film. Ein Boot war angeschwemmt worden und lag
mitten auf der Straße, Getränkeautomaten und Autos lagen kreuz und quer und die
Geschäfte waren nicht mehr wiederzuerkennen.
Rückblickend hatten wir allerdings sehr viel Glück im Unglück. Die unzähligen
kleinen Inseln inmitten der Bucht hatten einen Großteil der Kraft des Tsunamis
absorbiert, so dass glücklicherweise kein Mensch ums Leben kam. Im nur 10 km
nördlich gelegenen Higashi-Matsushima war dies jedoch nicht der Fall. Die
Hälfte der Stadt stand unter Wasser und Brände brachen aus. Higashi-Matsushima
hatte über 1000 Tote zu vermelden. All dies war mir jedoch zu diesem Zeitpunkt
noch nicht bewusst. Darum planten meine Freundin und ich sowie unsere neu
gewonnenen Freunde, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen und nach
Sendai zurückzukehren, um von dort mit dem Zug die Region verlassen zu können.
Da der Bahnhof in Matsushima beschädigt war, hatten zwei unserer Freunde vor,
zunächst per Anhalter nach Sendai zu gelangen, um dann von dort mit einem Taxi
zurückzukehren und uns abzuholen. Währenddessen wartete der Rest von uns im
Tempel. Nach einigen Stunden des Wartens, kamen die beiden gegen Abend mit zwei
Taxis zurück. Diese nahmen wir dann, um nach Sendai zu gelangen. Erst im Taxi
erfuhr ich davon, (lass auch in Teilen von Sendai der Tsunami schwere Schäden
angerichtet hatte. Zudem war das Benzin in der Stadt knapp, so dass man von
Glück sprechen konnte, dass unsere Freunde noch Taxis fanden, die die Strecke bis
nach Matsushima fahren konnten.
Aus dem Wagen konnte ich sehen, dass Teile der Schnellzug-Strecke stark
beschädigt waren und zudem über der Stadt eine gewaltige schwarze Wolke hing.
Der Fahrer sprach davon, dass es eine Explosion in der nahe gelegenen
Öl-Raffinerie gegeben hatte und die Wolke daher rührte. Zudem sei der
Hauptbahnhof sehr stark beschädigt worden. Uns wurde klar, dass, einmal in
Sendai angekommen, es für uns schwer sein würde, die Stadt wieder zu verlassen.
Während wir durch die Vororte-der Stadt fuhren, bemerkte ich, dass die
Tankstellen und die meisten Geschäfte geschlossen waren. Bei den vereinzelten
Supermärkten, die noch geöffnet hatten, waren meterlange Schlangen an Wartenden
zu sehen.
Als wir am Hauptbahnhof der Stadt ankamen, hatte ich einen genaueren Überblick
über die Stadt. Sie war zum Großteil in Dunkelheit gehüllt. Einige wenige
Geschäfte und Hotels hatten noch Strom und damit Licht. Vor dem geschlossenen
Bahnhof warteten auch bereits Angestellte der Bahngesellschaft, um Auskunft
über die Situation zu geben. Uns wurde gesagt, dass zum gegebenen Zeitpunkt
keine Züge fahren würden und auch Busse die Stadt nicht verließen. Uns blieb
damit nichts anderes übrig, als in der Stadt nach einem Hotel zu suchen und
dort die Nacht zu verbringen.
Es stellte sich heraus, dass die meisten Hotels vollkommen überfüllt waren mit
Leuten, die so wie wir in der Stadt gestrandet waren. Menschen, die keinen
freien Platz fanden, drängten sich in den Lobbys der Hotels zusammen, um
wenigstens dort etwas Ruhe zu finden. Nachdem wir selbst nach längerem Suchen
kein Hotel fanden, das noch Platz für uns hatte, machten wir an einem
Restaurant halt, das vor seinem Geschäft eine Suppenküche aufgebaut hatte und
jedem eine kleine Schale heißer Suppe überreichte. Ich war sehr dankbar für die
kostenlose Suppe, aber noch dankbarer war ich in diesem Moment für das Lächeln,
mit dem die Leute uns die Suppe überreichten. Es gab mir das Gefühl von
Normalität und Sicherheit.
Kurz darauf gelang es uns doch noch, ein Hotel zu finden, das noch freie Zimmer
hatte. Wir wurden in einem Zimmer im sechsten Stock des Hotels untergebracht,
mussten aber die Treppen benutzen, da der Fahrstuhl ausgefallen war. Beim
Hinaufsteigen der Treppen hatte ich stets ein ungutes Gefühl, denn im Gegensatz
zu unseren japanischen Freunden besaßen unsere Handys kein integriertes
Alarmsystem. Wir würden zudem in getrennten Zimmern schlafen. Im Falle eines
weiteren starken Nachbebens befürchtete ich deshalb, dass wir keine Möglichkeit
hätten, das Gebäude schnell genug zu verlassen.
Zur Beruhigung versammelten wir uns zunächst alle im Zimmer unserer Freunde.
Wir saßen alle auf dem Bett und redeten über unsere weiteren Pläne, während
dabei der Fernseher mit aktuellen Informationen zum Erdbeben lief. Zu diesem
Zeitpunkt litt ich aufgrund der vielen Nachbeben wahrscheinlich an
Phantombeben. Für mich war daher die Erde durchgängig am Zittern und mir war
nicht klar, ob es sich um Einbildung, oder wirklich um eines der vielen
Nachbeben handelte. Während des Gesprächs begann ich deshalb, mich auf
Gegenstände in dem Raum zu fixieren und abzuwarten, bis diese anfingen zu
wackeln. Als dann plötzlich die Stehlampe anfing sich zu bewegen, war auch
schon der schrille Ton des Alarmsignals zu hören. Wir verließen umgehend das
Zimmer und rannten die Treppen hinab. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit,
mir die Schuhe anzuziehen, und so stand ich am Ende nur mit T-Shirt und Socken
bekleidet mit den Anderen auf der Straße vor dem Hotel, wo wir das Nachbeben
abwarteten. Mir wurde bewusst, dass ich diese Nacht nicht auf dem Hotelzimmer
würde verbringen können und entschied mich deshalb, mit meiner Freundin in der
Lobby zu bleiben. Während sich unsere Freunde auf ihre Zimmer zurückzogen,
versuchte ich der Müdigkeit zu entgehen, indem ich den in der Lobby vorhandenen
Computer nutzte und im Internet verschiedene Zeitungen las. Erst da erfuhr ich
von dem Unglück in dem nur knapp 100 km entfernten Atomkraftwerk von Fukushima.
Das Unglück verstärkte nur unseren Drang, die Region schnellstmöglich zu
verlassen. Ich versuchte darauf, die Deutsche Botschaft in Tokio telefonisch zu
erreichen, allerdings hieß es dort nur, wir sollten weiterhin Radio und
Fernsehen verfolgen.
Ich schrieb noch einige E-Mails an meine Familie, bevor wir dann um sechs Uhr
morgens das Hotel verließen und zum Bahnhof gingen. Dort angekommen, fragten
wir die Angestellten erneut nach Möglichkeiten, um die Stadt zu verlassen. Sie
erzählten uns, dass heute womöglich eine Buslinie in die nahe gelegene Stadt
Yamagata fahren könnte. Wir nutzten diese Chance und begaben uns zu der
Bushaltestelle, wo jedoch bereits eine Schlange von geschätzten hundert
Personen wartete. Während auch wir uns anstellten, erhöhte sich die Anzahl der
Wartenden auf vermutlich über 200 Personen. Auch ein Kamerateam war vor Ort und
machte Aufnahmen von den wartenden Leuten, während immer wieder Nachbeben die
Gebäude um uns herum erschütterten. Nach mehreren Stunden kamen dann die ersten
Busse und es war uns möglich, gegen Mittag die Stadt zu verlassen.
In Yamagata angekommen, suchten wir zunächst nach einem Hotel. Im Gegensatz zu
Sendai gab es keine sichtbaren Auswirkungen durch das Beben, und die Menschen
gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Wir wurden allerdings schnell auf eine
große Menschenmenge aufmerksam, die sich alle für etwas anstellten. Nach kurzer
Erkundigung wurde uns mitgeteilt, dass es noch einen Bus in das etwa 100 km
westlich gelegene Tsuruoka gebe. Dort, so hätten die Menschen gehört, würden
noch Züge fahren, mit denen man Richtung Süden käme. Auch wir versuchten unser
Glück und stellten uns an. Mit dem Bus erreichten wir gegen Abend die Stadt
Tsuruoka, wo der Bahnhof bereits vollkommen überfüllt war. Viele Menschen
versuchten noch, die letzten Züge zu nehmen, um irgendwie die Tohoku Region (im
Norden der Hauptinsel Japans) verlassen zu können. Ich fühlte mich an Bilder
von Flüchtlingen erinnert. Uns gelang es, mit einem der Züge die südliche Stadt
Niigata zu erreichen. Von dort an war die Infrastruktur Richtung Tokio noch intakt,
sodass wir einen der Nachtbusse nach Nagoya nehmen konnten, die Heimatstadt
unserer Freunde.
Im Gegensatz zu uns wollten diese jedoch die Tohoku Region nicht aufgrund der
womöglich drohenden nuklearen Katastrophe in Fukushima verlassen. Ihr Wunsch
war lediglich, am nächsten Tag erneut pünktlich in Nagoya zur Arbeit erscheinen
zu können. Auch während der gesamten Fahrt war das Thema Fukushima nie wirklich
Teil der Gespräche. Ich fragte sie daher, ob sie denn von den möglichen Folgen
des Unfalls wüssten, die entstehen könnten, aber sie wussten nicht viel über
die Gefahren von Radioaktivität oder zum Beispiel über den Unfall in
Tschernobyl. Daher waren es vor allen Dingen meine Freundin und ich, die
durchgängig angespannt waren und aufmerksam die Nachrichten verfolgten. In
Nagoya verabschiedeten wir uns und machten uns auf den Weg Richtung Kyoto, wo
wir ursprünglich das Hotel gebucht hatten.
Am Morgen des 14. März erreichten wir das Hotel und hatten endlich die
Möglichkeit, per Internet mit unseren Eltern zu telefonieren. Natürlich waren
diese sehr besorgt und reagierten fast schon panisch. Insbesondere die
reißerische Berichterstattung innerhalb der deutschen Medien tat ihren Beitrag
dazu. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in Sendai in der Lobby des
Hotels stand und am Computer einen deutschen Artikel las, in dem von der durch
den Tsunami angeblich komplett zerstörten Großstadt Sendai gesprochen wurde,
was natürlich nicht der Fall war. Letztendlich entschieden wir beide uns dafür,
zunächst einmal abzuwarten und aufmerksam die Medien zu verfolgen. Keiner von
uns beiden wollte das Land verlassen, da es uns vorkam, als würden wir all die
Leute im Stich lassen, die uns während des Bebens geholfen hatten, wenn wir nun
in Zeiten der Not nach Deutschland zurückkehren würden.
Als sich jedoch am 15. März die Lage in Fukushima durch eine erneute Explosion
zuspitzte, entschieden auch wir uns dafür, das Land zu verlassen. Insbesondere
wurde aber der Druck der eigenen Eltern zu stark und ich ließ mich durch ihre Panik
anstecken, so dass wir am 16. März vom Internationalen Flughafen Kansai aus
heim flogen. Noch im Flugzeug sitzend, war ich natürlich zum Einen glücklich
darüber, dass ich mich nun in endgültiger Sicherheit befand, andererseits
schmerzte es mich, all meine Freunde und Bekannten, die ich in Japan hatte, auf
solche Art und Weise zurücklassen zu müssen.
Zurück in Deutschland beobachtete ich die Situation weiterhin. Mittlerweile
schenkte ich jedoch den deutschen Medien kaum noch Aufmerksamkeit und wandte mich
eher den japanischen und angelsächsischen Medien zu. Denn bereits ab dem ersten
Tag der Katastrophe fielen in den deutschen Medien Schlagwörter wie
‚Tschernobyl Asiens” oder „Todeszone Fukushima”. Manch einer sprach
bereits davon, dass Japan wohl auf unbestimmte Zeit unbewohnbar bleiben würde,
und schon einen Tag nach der Katastrophe am 11. März standen auf deutschen
Straßen über 60.000 Demonstranten und protestierten gegen Atomkraft. Während
viele Japaner begründete Angst vor der entweichenden Radioaktivität hatten,
sahen sich auch viele Menschen im fast 10.000km entfernten Deutschland durch
die Ereignisse in Fukushima unmittelbar bedroht und dazu veranlasst, sich mit
Jodtabletten und Geigerzählern einzudecken.
Selten wurde in den deutschen Medien über die vielen tausenden Toten
gesprochen, die der Tsunami verursacht hatte oder über die vielen Menschen, die
ihr gesamtes Hab und Gut in den Fluten verloren haben. Der Fokus lag stets auf
der nuklearen Katastrophe in Fukushima. Auch sprach man davon, dass die
Regierung sowie die Medien in Japan das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe zu
verschleiern versuchten und dass darauf die augenscheinliche Ruhe und
Gelassenheit der Japaner beruhte. Viele der Japaner seien sich gar nicht
wirklich bewusst, was in Fukushima passiere. Auch ich kann nicht sagen, wie
viel Wahrheit sich in dieser Behauptung befindet, jedoch konnte ich mich noch
in meiner Zeit kurz nach dem Beben davon überzeugen, dass sowohl das japanische
Fernsehen als auch die Presse ausgiebig über das Geschehen in Fukushima
berichteten.
Ich verfolgte tagtäglich die Medien, und stets, wenn ich Artikel der deutschen
Presse las sowie die dazu verfassten Leserkommentare, schämte ich mich als
Deutscher. Ich hätte mir innerhalb Deutschlands mehr Bereitschaft zur Hilfe und
Solidarität mit den Opfern der Katastrophe gewünscht, stattdessen gab es zum
größten Teil eine Diskussion über die zukünftige Energiepolitik Deutschlands.
Auch nachdem ich nach Japan zurückkehrte und mit Japanern über die Ereignisse
sprach, fiel es mir schwer, über die Reaktion der Deutschen zu sprechen. Ich
hatte Schwierigkeiten, den Japanern die Beweggründe für das zu erklären, was
viele Medien außerhalb Deutschlands mittlerweile als „German Angst”
bezeichnen.
Dementsprechend liefen auch die Gespräche ab, die ich mit vielen meiner Freunde
in Deutschland führte. Es war mir sofort nach meiner Heimreise nach Deutschland
klar, dass ich nach Japan zurückkehren würde. Etwas anderes kam für mich nicht
in Frage und wäre den Leuten, die mir während des Bebens so zahlreich geholfen
hatten, sowie meinen Freunden in Japan gegenüber falsch. Viele Leute in
Deutschland, die mich darauf ansprachen, zeigten jedoch dafür nur
Unverständnis. Japan wäre zu gefährlich und eine Wiederkehr dorthin wäre zu
riskant. Sicherlich wusste man im März noch nicht, ob die Reaktoren wieder
unter Kontrolle gebracht werden könnten, allerdings vermutete ich schon damals,
dass Fukushima nicht die Ausmaße von Tschernobyl annehmen würde, da beide
Unfälle vollkommen verschieden und nicht vergleichbar sind. Viele Menschen in
Deutschland fanden sich allerdings sofort an das Unglück von Tschernobyl
zurückerinnert und betrachteten daher Fukushima mit anderen Augen.
Ich verbrachte etwa drei Wochen in Deutschland, bevor ich akzeptierte, dass sich
an der Situation in Japan in nächster Zeit nicht viel ändern würde und ich mit
der Ungewissheit über den Ausgang des Fukushima-Unglücks leben müsse, wenn ich
dorthin zurückkehrte. Mir war auch bewusst, dass die Radioaktivität schnell
ihren Weg in die Nahrungsmittelkette finden würde und auch ich zu einem
gewissen Grad etwas von der Radioaktivität in mir aufnehmen würde. Ich führte
daher Gespräche mit meinen Eltern, mit Freunden und sogar mit einem Mitarbeiter
des Bundesamts für Strahlenschutz. All diese Gespräche bestätigten mir jedoch
nur noch einmal, dass letztendlich die Entscheidung bei mir lag. Somit flog ich
nach einem Aufenthalt in Deutschland von etwa drei Wochen am 5. April zurück
nach Japan.
Das Tohoku-Erdbeben am 11. März und die Erfahrungen, die ich daraufhin machte,
haben in vielerlei Hinsicht meine Sichtweise sowohl auf die Japaner als auch
auf die Deutschen verändert. Sicherlich war auch ich von der Gelassenheit und
Ruhe beeindruckt, die die Japaner während des Erdbebens zeigten, aber auch
überraschte mich, wie sie mit den Folgen der Katastrophe umgingen und weiterhin
umgehen. Dass die japanische Politik seit Langem in einer Krise steckt, ist
auch außerhalb Japans bekannt, allerdings hatten ich und andere erhofft, dass
das Erdbeben Auslöser für neue politische Kräfte wäre, dass Streitigkeiten
endlich beiseite gelegt würden und gemeinsam die Probleme des Landes angegangen
würden. Leider wurde ich hinsichtlich dieser Hoffnung bisher enttäuscht. Auch
wenn die Geschehnisse in Japan tragisch und schrecklich waren, bin ich froh,
dass ich das Erlebte heil überstanden habe und solch eine Erfahrung machen
konnte. Sie brachte mich näher an die Menschen in Japan und stärkte meine
Beziehung zu dem Land. Ich bin daher den Menschen des Landes zutiefst dankbar.