Vier Tage im März

Während der Fukushima-Krise 2011 wird Japans Premier Naoto Kan vom Befürworter zum engagierten Gegner der Atomkraft
(Michael Abschlag in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 17./18. Oktober 2015)

Tokio/Ludwigshafen. Es ist einer der größten und verheerendsten Reaktorunfälle aller Zeiten: Der Tsunami, der am 11. März 2011 das Atomkraftwerk von Fukushima heimsucht, und die anschließende Kernschmelze erschüttern nicht nur Japan, sondern die ganze Welt. Premierminister Naoto Kan steht vor der größten Krise seiner Amtszeit. Als er sich vier Tage später in einem Appell an die Öffentlichkeit wendet, ist er ein anderer: Aus dem einstigen Befürworter ist ein entschiedener Gegner der Atomkraft geworden.

„Ich habe mich in meinem Denken um 180 Grad gedreht“, erklärt Kan. Im Ostasieninstitut der Uni Ludwigshafen stellt er sein Buch „Als Premierminister während der Fukushima-Krise“ vor. Darin schildert er, wie er die Katastrophe erlebte – und welche Schlüsse er daraus zog.

Die Lage damals ist dramatisch: Nach einem Stromausfall in einem der Reaktoren kommt es zur Kernschmelze. Würde der schlimmste Fall eintreten und alle Reaktoren ausfallen, erinnert sich Kan, so müsste man im Umkreis von über 250 Kilometern die Bevölkerung evakuieren – in einem Gebiet, in dem unter anderem Tokio liegt. „Davon wären 50 Millionen Menschen betroffen gewesen. Das wäre das Ende des Staates Japan gewesen“, so Kan.

1946 in der südjapanischen Küstenstadt Ube geboren, studiert Kan zunächst angewandte Physik an der Technischen Hochschule in Tokio. Wie seine Amtskollegin Merkel kennt auch er die physikalisch-technischen Grundlagen der Kernkraft, wie sie hält er damals die Reaktoren der entwickelten Industrieländer für sicher. Er beendet sein Studium 1970, heiratet im gleichen Jahr seine Cousine Nobuko. Mit ihr hat er zwei Söhne, einer ist heute Menschenrechtsaktivist.
Auch Kans Weg in die Politik beginnt mit seinem Engagement in Bürgerbewegungen, etwa gegen Atomwaffen. Er wird Mitglied des Sozialdemokratischen Bundes und später Mitbegründer der sozialdemokratisch geprägten Demokratischen Partei (DPJ). 2010 wird er Premierminister.

Lange Zeit gilt Kernkraft auch in Japan als Technologie der Zukunft. Schließlich ist das Land klein, dicht bevölkert und hoch industrialisiert, der Energiebedarf ist groß, die natürlichen Ressourcen sind begrenzt. Auch Kan hält die Atomenergie zunächst für kontrollierbar: „Ich hätte eine Kernschmelze in Japan nie für möglich gehalten“, erinnert er sich. „In den vier Tagen zwischen dem 11. und dem 15. März habe ich meine Meinung von Grund auf geändert.“ Seither ist er ein engagierter Gegner der Kernkraft. „Ich glaube, dass wir bis zum Ende des Jahrhunderts weltweit aussteigen können und sollten“, fordert er. Die Alternative sieht er vor allem in der Solarkraft.

Nach der Reaktorkatastrophe tritt Kan auf Druck der Opposition zurück, erpresst aber im Gegenzug drei Zugeständnisse – darunter ein Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien. Heute sitzt er als Abgeordneter im japanischen Unterhaus. Der Kampf gegen die Atomkraft, die unter Japans jetziger Regierung eine Renaissance erlebt, ist zu seiner Lebensaufgabe geworden.

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