Shí shì qiú shì.
Mit diesem Spruch leitete Dèng Xiǎopíng (邓小平, 1904 – 1997) die Reformpolitik ein. Nach den Wirren der Kulturrevolution (1966 – 1976) hatte China Reformen bitter nötig, denn die Planwirtschaft lähmte jede wirtschaftliche Entwicklung.
1978 setzte sich Deng mit dieser Position und dem Zusatz „die Praxis ist das einzige Kriterium zur Überprüfung der Wahrheit“ durch:
实践是检验真理的唯一标准。
Shíjiàn shì jiǎnyàn zhēnlǐ de wéiyī biāozhǔn.
Verwendung:
„Mitten in den Aufschreibversuchen findet sich ein Brief Enquists an Mao. Nicht wegen einer bestimmten Schrift, sondern wegen des allgemeinen Aufrufs: die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Nachträglich kommt die Aufforderung vielleicht einem an Newton und Helmholtz ausgerichteten Denken außerordentlich banal vor. Wie sollte man denn sonst zu Wahrheit kommen? Damals aber – in der Spätzeit Maos – muss die Aufforderung etwas Befreiendes enthalten haben. Nämlich: nicht scholastisch vorzugehen. Nicht aus den Schriften von Marx und Lenin zu allererst folgern, was eigentlich hätte passieren müssen nach ihrer Lehre und dann die begegnenden Ereignisse danach zu sortieren und gelten zu lassen, sondern gerade umgekehrt: ohne angemaßtes Vorauswissen zu schauen, was vorliegt, was ansteht, um dies dann nachträglich im Licht der Lehre der Vordenker zu überprüfen.“
(Fritz Güde: „Auf der Suche nach den Tatsachen! Gibt es die aber wie den Kiesel am Weg?“ – Über Per Olov Enquists Roman „Die Ausgelieferten“; http://www.kritisch-lesen.de/2011/07/auf-der-suche-nach-den-tatsachen-gibt-es-die-aber-wie-den-kiesel-am-weg/)
„Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ in der Handschrift Máo Zédōngs (毛泽东) „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ in der Handschrift Dèng Xiǎopíngs (邓小平)
Vokabeln:
實 shí echt, wirklich | 事 shì Sache, Tatsache |
求 qiú suchen | 是 shì ja, sein, richtig |
Hintergrund:
Das Sprichwort hat aber einen weit zurückliegenden Hintergrund bis in die Zeit, in der Konfuzius (孔夫子 Kǒng Fūzǐ, 551 – 479 v. u. Z.) durch die Lande reiste. Als er einmal in seinem Wagen auf ein Dorf zufuhr, hörte er, wie sich zwei Jungen lautstark stritten.
„Worüber streitet ihr euch?“ fragte er.
„Ich weiß zwar nicht, wer Ihr seid“, erwiderte der Eine. „Aber gewiss wisst Ihr mehr als wir.“
Konfuzius sagte: „Ich bin Kǒng Qiu (孔丘) aus Lǔ (魯). Ihr werdet meinen Namen nicht kennen.“
„Oh doch, Ihr seid der größte Gelehrte. Bitte entscheidet, wer von uns beiden Recht hat!“
„Also gut, worum geht es?“
Der erste Junge erklärte: „Wir sind auf die Frage gestoßen, wann die Sonne näher steht, am Morgen oder am Mittag. Ich bin für den Morgen.”
„Nein, ganz falsch“, widersprach der andere Junge, „am Mittag ist sie uns näher.“
„Ihr habt doch sicher Gründe“, forschte Konfuzius weiter nach.
Der erste Junge nickte: „Am Morgen, wenn die Sonne aufgeht, ist sie groß. Am Mittag dagegen ist sie kleiner. Deshalb muss die Sonne am Mittag weiter entfernt sein als am Morgen.“
„So ein Unsinn!“ ereiferte sich der andere Junge: „Am Morgen ist es kühl, am Mittag heiß. Wenn man nahe bei einem Feuer steht, spürt man die Hitze viel stärker. Also muss die Sonne am Mittag näher sein.“
Konfuzius sann eine Weile nach: Beide Meinungen schienen einleuchtend und doch waren sie miteinander nicht vereinbar. Da sagte er zu den Beiden: „Ich kann zur Zeit nicht entscheiden, wer von euch beiden Recht hat. Ich weiß im Augenblick nicht genug, um die richtige Lösung zu finden.“
Die beiden Jungen sahen einander groß an. Dann begann der eine zu lachen: „Was sollen wir uns streiten, wenn sogar Meister Kong die Antwort nicht weiß!“ „Du hast Recht“, stimmte der andere zu. „Auch Meister Kong stellt sich auf den Boden der Tatsache!“
Sie verneigten sich und liefen zu ihren Spielgefährten.